Montag, 3. Oktober 2016

Kurzzeitgedächtnis - Gedächtnisstörung

Meine Tochter kam, obwohl sie rein von den Daten kein Frühchen mehr war, auffallend klein und leicht zur Welt. Niemand im Krankhaus oder auch nur einer der 3 Kinderärzte, die wie verschlissen haben, hat je angemerkt, dass die Besonderheiten im Verhalten meiner Tochter damit zusammenhängen könnten. 

Im Kindergarten gab man mir das Gefühl, dass meine Beobachtungen nur aufgrund meiner Überfokussierung bestehen würden. Es handelte sich dabei um einen Montessori-Kindergarten, in welchem in jeder Gruppe eine heilpädagogische Kraft zum Team gehörte. Nur gab es wohl wesentlich zeitraubendere Fälle und meine Tochter war sehr angepasst oder zog sich raus. Sie reagierte psychosomatisch, wollte nicht in den Kindergarten. An der Art des Umgang mit ihr konnte es natürlich nicht liegen.

Ich besuchte mit meiner Tochter eine kinderpsychologischen Praxis, die zwar Auffälligkeiten im Bereich der Wahrnehmung und ihr auffallend sensibles Verhalten bemerkten, aber lange brauchten bis sie mit einem Test feststellten, dass meine Tochter sowohl eine Rechenstörung als auch bereits ein sehr frustriertes Arbeitsverhalten aufwies. Durch einen überraschend kurzen Termin im WOI in Hamburg (ein SPZ), erfuhr ich dann von ihrer leichten infantilen Zerebralparese. Für drei Kinderärzte und das gesamte Team des Kindergartens nicht sichtbar. Da war sie bereits fast 7 Jahre alt. Sie hat eine sehr leichte Ausprägung, es betrifft fast nur den linken Fuß. Der Zehenspitzengang war häufig auffällig, aber natürlich nichts, weswegen sich eine Kinderarzt verunsichern lässt. Dass mein Kind sich motorisch eher grenzwertig entwickelt hat, immer hart am Raster, gilt ja heute nicht mehr als bemerkenswert. Wie oft habe ich gehört: jedes Kind hat sein eigenes Tempo. 

Infantile Zerebralparese bewirkt eine Entwicklungsverzögerung beim Kind, es braucht immer ein wenig länger - je nach Grad der Ausprägung. Schlimmer ist aber, dass ein sensibles Kind dies merkt. Meine Tochter war mutlos, schüchtern, zurückhaltend. Ein richtiger Schlag fürs Selbstbewußtsein, wenn man nicht weiß, warum so vieles so schwer ist, z.B. auf einem Bein springen oder im Klettergerüst nach oben klettern. Dann macht man halt was anderes.

Ich meldete sie zum psychomotorischen Kinderturnen an, was ihr einen riesigen Push brachte, wenn es auch einfach 1 Jahr dauerte. Schwimmen konnte sie, nachdem ich mit ihr wegen ihrer Wasserangst 1 Jahr zur Wassergewöhnung und 1/2 Jahr für Bronze zum Schwimmen gegangen bin. Manche Dinge müssen sein. 
Außerdem geht sie seit 9 Monaten zum Karate. Ein wunderbarer Sport für Konzentration und Gleichgewicht. Und einen Gürtel zu haben macht zudem noch sehr stolz. 

Leider ließen sich die grobmotorischen Fortschritte nicht auf die Schule übertragen. Das letzte Zeugnis machte deutlich, dass es Schwierigkeiten in Konzentration, Aufmerksamkeit, Zieloriertiertheit usw. gibt. Wußte ich schon, als Mutter merkt man das. Also habe ich wieder Termine bei ihrer Psychologin gemacht. Es wurde wieder getestet. Meine Tochter hasst diese Testerei inzwischen verständlicherweise. Aber es hat sich wieder gelohnt.

Bei herausragenden Leistungen im Bereich Sprache und Logik fiel auf, dass sie ein geradezu unterirdisches Kurzzeitgedächtnis hat. Bingo. Das erklärt so vieles. Sie ist wie Dori, der Fisch von "Findet Nemo".  Während sie sich gut merken kann, was sie sieht, vergisst sie abstrakte Aufforderungen, die sie nur hört fast sofort wieder bzw. muss mit sehr viel Anstrengung dagegen arbeiten. Der Unterricht ist für sie mühsam. Die Lehrer erklären Nomen und Verben mündlich oder studieren Liedertext mündlich ein. Bei dieser Art des Vermittelns brauchte sie sehr lange um sich Erklärungen oder Texte zu merken. Sie hat gemerkt, dass andere es schneller konnten und nicht gewußt warum. Sie fühlte sich dumm. Was soll man auch sagen, wenn Mama zu Hause fragt, was ist denn jetzt ein Nomen und jegliche Erklärung dazu schon wieder verflogen ist. 
Daher war es auch so wichtig, herauszubekommen, was dahinter steckt. So kann sie erst lernen damit umzugehen und Taktiken zu entwickeln. Auch die Lehrer müssen sich darauf einstellen. Bereit dazu sind sie und ich bin gespannt, wie wir das schaffen.

Nun ist aber auch klar, warum sie so gut auf die Cuisenaire Stäbchen angesprochen hat. Sie hat zu meinen mündlichen Erklärungen auch immer ein Bild. Sie konnte sich neben der Erklärung auch die Handlung einprägen. Sicher hat meine Tochter Schwächen im mathematischen Bereich. Ich frage mich aber auch, was war zuerst da - das Ei oder das Huhn? Denn wie kann ein Kind die Grundlagen der Mathematik erlernen, wenn sie sie zu schnell vergisst und zu wenig wiederholt wird. Klar braucht sie dadurch länger. Schon das Erlernen der Zahlen wird sie in der ersten Klasse stark gefordert haben, zumal sie häufig die Aufgabenstellung nicht verstanden hat. Sie hat dann einfach den Anschluss verloren, obwohl sie so ehrgeizig war und  versuchte mitzuhalten. 

Für mich ist es daher entscheidend auch immer zu versuchen, die Ursache für die Rechenschwäche zu ermitteln. Einen ersten Schritt sind wir in diese Richtung jetzt gegangen und ein oder zwei andere müssen leider noch folgen. Aber meine Tochter in die Schule gehen zu lassen und zu wissen, dass sie unter ihren Fähigkeiten bleibt und sich selbst für dumm hält, werde ich nicht akzeptieren.