Donnerstag, 1. Dezember 2016

Raum-Lage-Wahrnehmung und AVWS

Vor ein paar Wochen hatte meine Tochter einen Termin bei einer ganz wunderbaren Logopädin. Wir waren zuletzt vor 3 Jahren dort, da ich schon damals das Gefühl hatte, dass "s", "sch" und "z" nicht wirklich deutlich sind. Damals einigten wir uns darauf abzuwarten, bis sie den Zahnwechsel abgeschlossen hat. Nun mit 8 1/2 Jahren ist dies der Fall. Zudem hatte sie zwischenzeitlich die Diagnose der Infantilen Cerebralparese erhalten und auch diese wirkt sich häufig nachteilig auf die Mundmuskulatur aus.

Das S-/Sch- Problem besteht noch immer und wird nun zukünftig auch bearbeitet. 
Darüberhinaus hat sich diese Logopädin mein Kind aber auch ganzheitlich angeschaut. So hat sie schon vor drei Jahren eine motorische Entwicklungsverzögerung bemerkt, wie sie mir gestand. Eine Diagnose, an die zu diesem Zeitpunkt niemand gedacht hat. Auch haben wir allgemein über die Schule, Rechtschreibung und Schriftbild gepsprochen und sie hält es für möglich, dass ihre Raum-Lage-Wahrnehmung nicht richtig ausgebildet ist. Und das entspricht ganz meiner Ansicht, nur dass dies niemand sonst so sieht. Meine Tochter hatte auch in der 2. Klasse noch Schwierigkeiten Buchstaben richtig auf den Zeilen anzuordnen. Ein kleines "p" steht dann eben neben dem großen "P" usw. Zahlen schreibt sie bis heute  - wenn auch nur noch selten - spiegelverkehrt. Es ist noch immer ein Problem "E" und das €-Zeichen oder "d" und "b" auseinanderzuhalten und sie verrutscht nach wie vor beim Lesen in der Zeile. Zudem kann sie sich nur schlecht organisieren und strukturieren (typisch bei Rechenschwäche). Sie packt ihre Mappe nur unvollständig und vergisst die Hälfte in der Schule. Bis heute und trotz enormer Verbesserung ihres Schriftbildes, mag sie keine Puzzle,  kein Perlenfädeln und hat Schwierigkeiten mit dem sauberen Ausmalen - viele Kleinigkeiten geben eben ein Bild. 

Die Logopädin gab mir einen Rat, der einfach klingt. "Lassen sie ihr Kind entscheiden". 
Wie das aussehen soll? Sie hat es mir vorgemacht. Sie kam mit ihrem Aufgabenkasten und fragte meine Tochter, wo sie im Zimmer diesen Kasten gemeinsam bearbeiten wollen. Meine Tochter wusste keine Antwort und sagte, dass sie es entscheiden soll. Die Logopädin ging nicht darauf ein, sondern wartete auf eine Antwort. Und meine Tochter saß und kam zunächst zu keiner Entscheidung. Und so viel Möglichkeiten gab es nicht. Nun hätte man ihr vorgeben können: am Tisch oder auf dem Teppich? Aber dann hätte sie den Ort und damit die Entscheidung nicht wirklich allein finden müssen. Dies scheint eine Kleinigkeit. Aber man nimmt seinem Kind die Möglichkeit sich selbst zu orientieren und eine Aufgabe zu lösen. 

Von nun an soll sie Wege alleine vorschlagen und wir sollen dann auch wirklich so gehen. Dies haben wir bereits ausprobiert und es kam zu dem uns überraschenden Ergebnis, dass unsere Tochter sich nur schlecht in unserem näherem Wohnumfeld orientieren kann. Das hatte ich nicht erwartet, sind wir doch ständig zu Fuß, mit Fahrrad und Roller unterwegs. Seit Jahren die gleichen Wege. Auch gestand sie mir, dass sie nur schwer den Musik- und den Kunstraum in ihrer Schule findet. Ihre Schule ist eher klein, aber da es sich um eine umgebaute alte Villa handelt, ein wenig unkonventionell. Selbst beim Einkaufen ist es verwunderlich zu beobachten, dass sie den vollen Einkaufskorb direkt wieder wegbringen will. Keine Handlungsplanung, strukturierungsschwach.

Häufig wird ja geraten, dass Kind beim Kochen und Backen helfen zu lassen. Ich weiß gar nicht, wie oft ich von Lehrern und Erziehern schon gefragt wurde, ob dies mein Kind darf. Natürlich darf es. Tut es auch oft. Meine Tocher ist jedoch dabei unorganisiert, voreilig, hibbelig und bricht meist vorzeitig ab. Sehr anstrengend für mich und wahrscheinlich recht unbefriedigend für sie. Oh sie backt gern, aber das Prozedere, die genaue Einhaltung des Ablaufs, das fällt ihr schwer. Viel lieber rührt sie spontan einen Zitronenjoghurt an. Da muss man nicht so viel beachten und schmecken tut der immer, süß oder sauer. Unsere Logopädin schlug vor, dass sie nur kurze Aufgaben erfüllt, wenn sie lange Aufgaben so anstrengen und sie nur schwer dabeibleiben kann. Also z.B. eine Zitrone auspressen. Aber eben auch alles selber dafür organisieren und wieder wegräumen. 

Das Verhalten beim Backen findet sich auch woanders, z.B. beim Basteln. Sie bastelt gern, aber ungern nach Anleitung. Meistens husch-husch. Und nie, wenn andere besser sein könnten. Es fehlt ihr ein innerer Plan.

Nur nebenbei - alles was man bei Raum-Lage-Wahrnehmungsstörung empfiehlt, haben wir konsequent betrieben: Fahrrad fahren, Schwimmen, Basteln, kneten, ausmalen, Hüpfspiele, Schaukeln, Trampolin, Karate usw. usf. Was das alles gebracht hat, kann man nun nicht sicher sagen. Der große Erfolg ist ausgeblieben.

Zusätzlich zur Logopädin war ich mit meiner Tochter bei einem neuen HNO-Arzt, der mir wärmstens empfohlen wurde. Nun könnte man auf den Gedanken kommen, warum mein Kind ständig zu irgendwelchen Ärzten muss. So jedenfalls die Aussage der Lehrer meiner Tochter. Ich wünschte es mir tatsächlich auch anders und kann verstehen, dass es für Außendstehende, aber auch für meine Tochter selbst, nicht nachvollziehbar ist. Bisher wurde aber jede Diagnose nur gestellt, weil ich ein Baugefühl hatte und auf entsprechende Untersuchungen gedrängt habe.
Bei der Logopädin stellte sich z.B. heraus, dass meine Tochter eine Schluckstörung hat. Klingt schlimm, bedeutet aber nur, dass sie ihre Zunge in der Ruheposition falsch ablegt. Dadurch wird die Mundatmung fossiert, d.h. in der Erkältungszeit gelangt die eingeatmete Luft ungefiltert in den Körper. Es wäre schön, wenn uns unser alter HNO-Arzt darauf hingewiesen hätte. So hatte meine Tochter bereits 3 Mal Paukenröhrchen und  - Überraschung - derzeit wieder einen schlimmen Paukenerguß.

Dies erfuhren wir dann auch prompt bei dem neuen HNO-Arzt, der einen Hörtest machte und zudem ihre Zunge einfärbte, um sich ihr Schluckverhalten anzusehen. Eigentlich waren wir bei diesem Arzt, weil eine andere Mutter mich darauf hinwies, dass Schluckstörung und schlechtes auditives Kurzzeitgedächtnis zu einer AVWS führen könnten. Hatten wir schon mal testen lassen, aber um sicher zu gehen ...
Dieser Arzt nun ist auf mein Ansinnen nicht weiter eingegangen. Er meinte, dass er Kinder wie meines, schon im Wartezimmer erkennt. Er sieht es, wie sie gehen, die Hand geben, sich mit Drehung des ganzen Körpers hinsetzen. 
Sein Ratschlag: keine Medien (nur einmal die Woche), jede Woche mind. ein Mal zwei Stunden am Stück raus, schwere Sachen tragen lassen (auch beim Spazieren gehen), raufen und rangeln, ein Zelt als Rückzugsort. In 2 Monaten Wiedervorstellung, wenn ich denn gewillt sei, dies so zu machen. 

Ich kann diese Empfehlungen gut nachvollziehen. Meinem Kind fehlt es an Körperspannung, die wirkt sich auch nachteilig auf die Mundmuskulatur aus, welche beim Fernsehen zusätzlich erschlafft (typsiche Mund-offen-Haltung). Gut Fernsehen gab es hier immer wenig, aber Hörspiele in Massen, weil meine Tochter diese liebt. Der Arzt meinte, würde ich seinen Empfehlungen Folge leisten, würde ich ein Kind bekommen, dass ganz anders steht und geht, anders auf andere Kinder wirkt usw. Nun - zumindest haben wir jetzt mehr Zeit, zum Karate und Keyboard üben, zum Lesen, zum Brettspiele spielen. Probieren will ich es auf alle Fälle.

Bezüglich des Paukenergusses meiner Tochter hat er mir eine (für mich neue) Behandlungsmethode empfohen - Lymphknotenmassage am Hals. Meine Tochter hat größte Angst vor dem Krankenhaus, vor Spritzen und Pflaster. Wir möchten eine 4. OP unbedingt vermeiden. Wir versuchen nun mittels spezieller Ernährung (keine Milchprodukte, Parmesan, grünes Gemüse, abends Hühnerbrühe), Nasentropfen, Nasenballon und Lymphknotenmassage die Operation zu verhindern. Diese spezielle Massage am Hals wird hier im Norden nur von 2 Praxen angeboten und über eine Warteliste konnte meine Tochter bereits 2 Termine wahrnehmen. Es zeigt Wirkung. Ein Ohr scheint frei zu sein, sie hat flüssigen "Schleim" abgehustet und es hat im Ohr geknackt. 
Ich bin erschüttert, dass kein HNO-Arzt zuvor uns diese Alternative (Kassenleistung) empfohlen hat. Scheinbar bringt eine OP mehr Geld ein. Meine Tochter - die ansonsten vor jedem Arzt Angst hat und bis jetzt immer Nasentropfen verweigerte - macht ganz konsequent mit und achtet darauf, nur ja keine Milchprodukte zu sich zu nehmen.   

Hier noch ein Link zu der Seite "Lernen in der Hängematte", welche erläutert in welchem Zusammenhang Dyskalkulie mit Wahrnehmungsstärungen, fehlender Handlungsplanung und mangelnder Struktur steht und das sich Dyskalkulie auch auf das zwischmenschliche Verhalten auswirken kann. Interessant auch der Hinweis auf hibbelige Kinder und ihr Orndungs- und Lernverhalten.